Wandbilder als ein Zentralelement architekturbezogener Kunst waren nicht nur aber doch besonders im DDR-Städtebau beliebtes Gestaltungselement. Walter Womackas großformatiges Mosaik „Produktion in Frieden“ in der Lindenallee prägt nach wie vor die Eisenhüttenstädter Stadtikonographie. Im ersten Wohnkomplex finden sich zwei hochinteressante Giebelbilder des Dresdner Künstlers Eduard-Gerhard Clauß. Und in diversen Schulgebäuden sind ebenfalls aufwendige Wandgestaltungen anzutreffen.
Ziel dieser „Wände der Verheißung“ (um einen Buchtitel zu exakt diesem Thema zu zitieren) war selbstverständlich vor allem, bestimmte ästhetische Vorstellungen mit gesellschaftlichen zu kombinieren und damit einprägsame Referenzpunkte für die mit diesen Arbeiten täglich konfrontierte Stadtbevölkerung zu schaffen. Die Kunsterziehung fand, wenn man so will, permanent im öffentlichen Raum statt.
Das Gegenbild dieser offiziellen Bildpolitik, die Kunstwerk gewordene Leitvorstellungen von Oben nach Unten delegiert, wurde in postsozialistischen Städten die so vermeintlich anarchische wie ziemlich egozentrische (und manchmal auch individualistische) Graffiti-Kultur. Ein Aufstand der Zeichen (um auf Baudrillards Schlüsseltext zu verweisen) bemächtigte sich mit seiner Bildsprache ebenfalls mit dem öffentlichen Raum und zwar in der ihm eigenen paradoxen Semikriminalität – ein mitunter für die Ausübenden sehr teures und nicht selten risikoreiches Unterfangen, das als Delikt durchaus empfindliche Bußen nach sich ziehen kann, im Gegenzug aber nur begrenzten Gewinn verspricht.
In seiner profansten (und, auch das ist zu ergänzen, teutonischen) Ausprägung funktioniert diese Subkultur allerdings tatsächlich als radikale, fast zur Parodie gesteigerte Überformung einer im Spätkapitalismus recht typischen Me-First-Einstellung. Es handelt sich um einen so reinrassigen wie ökonomisch irrationalen Wettbewerb. Für eine mitunter ziemlich brutale und destruktive Inbesitznahme meist öffentlicher Räume bedient man sich dabei mehr oder weniger aufwendiger Markierungen mit Namenszügen. Botschaften, die über das Verkünden der eigenen Präsenz (und Radikalität) hinausgehen sind genauso selten wie ein bewusster (wie auch immer gearteter) Verschönerungsanspruch. Durch ihre kommunikative Exklusivität – wer kann die Zeichen außerhalb der Szene und einige szenekundiger Beobachter in ihrer Bedeutung, Reichweite und Wirkung adäquat deuten? – sind sie buchstäblich buchstäblich antisozial (mehr dazu u.a. hier).
Der Draftsmen’s Congress in Eisenhüttenstadt (tumblr-Bildersammlung), der den September über in derStraße der Republik seine Fortsetzung findet, bricht nun mit beiden Traditionen. (So lautet jedenfalls meine Deutung.) Im Mittelpunkt steht die Gestaltung eines sich permanent verändernden Wandbilds, das wunderbarerweise in einem leerstehenden Geschäftsraum, nun ja, wuchert.
Es geht dabei ausdrücklich nicht darum, das bestimmte Künstler ein bestimmtes Werk nach ihren ästhetischen Programmen entwickeln. Vielmehr sollen sich die Bürger der Stadt (gemeinsam mit diesen Künstlern) über das Ausdrucksmittel Farbe in einen öffentlichen Dialog begeben. Sie sollen in eine unabschließbare Kette von Botschaft und Gegenbotschaft eintreten und dadurch aktiv an öffentlicher Kultur teilhaben.
Dabei galt und gilt es zunächst auch die Hemmung zu überwinden, unmittelbar in die Zeichnungen von Künstlern wie Artur Żmijewski oder Paweł Althamer einzugreifen, sie zu annotieren, weiter zu malen oder auch zu überzeichnen. Jeder hat das gleiche Recht zur Teilhabe. Bemerkenswerterweise zeichnen sich die meisten Besucher durch ein zweiteiliges Verhaltensschema aus. Zunächst gibt es eine Abwehrhaltung: Man sei nicht befähigt zu malen, also möchte man auch nicht. Gelingt es jedoch, diesen Punkt wirklich hin zu überschreiten, passiert es nicht selten, dass eine Art Selbstvergessenheit eintritt und die Konzentration tatsächlich vollauf der konkreten Interaktion mit der vorgegebenen Gestaltungsfläche gilt. (Eine dritte Konstante liegt in der Aussage, dass es ja schön sei, so etwas zu versuchen, es aber mit den Leuten in Eisenhüttenstadt sicher nichts wird - dies erzählt wohlgemerkt nahezu jeder Eisenhüttenstädter.)
Eine solche bewusste Deprofessionalisierung von Eingriffen in den öffentlichen Raum wirkt in einer sehr stark sowohl auf Kontrollierbarkeit wie auch Eigentumsansprüche – bis hin zum schöpferischen und geistigen Eigentum – gerichteten Kultur naturgemäß befremdlich. Konzeptionell schließt das Wandbild in der Tat ein Stück weit an die Tradition der verheißungsvollen Wände der DDR an: Es geht auch hier um eine bildvermittelte Utopie. Während jedoch das Mosaikhafte der Walter Womacka’schen Arbeiten bestimmte Wertvorstellungen stabilisiert und manifest in die Wahrnehmung der Menschen stellen wollte, folgt dieses Projekt mehr oder weniger unmittelbar einem sozial-aktivierenden Kunstkonzept von Artur Żmijewski und also einer viel konkreten Form des Aufzeigens von Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten (anstatt von konkreten Zielen und fixen Idealbildern).
Der Kongress der Zeichner veranschaulicht, wie sich die eigene Präsenz jedes Menschen konstruktiv in den Raum einschreiben kann, wenn man ihm einen Pinsel gibt und die Möglichkeit dazu einräumt, diesen zu nutzen. Und zwar nicht dafür, möglichst dreist in letztlich doch mehr oder weniger konventioneller Form seinen Namen an die Wand zu setzen. Sondern, in dem man sich möglichst offen und positiv auf die Möglichkeit einlässt, seine Spur als eine von vielen in eine vielgestaltige Öffentlichkeit einzubringen und damit Anschlusspunkte für Folgespuren zu schaffen.
Dass sich ein solch radikalpluralistisches Unternehmen ausgerechnet am Ort eines Stein gewordenen Ideals weitreichender Normierung und Uniformität, nämlich im Raum der ersten sozialistischen Stadt Deutschlands, seine Nische suchte, ist in einer Weise passend, die auch die Organisatoren zunächst nicht in diesem Umfang absehen konnten. Mit seinem ausdrücklichen Abschied von Dogmen und der unbedingten Zuwendung zur Vielfalt wird der eigentliche Symbolgehalt des Konzeptes der sozialistischen Planstadt in seiner postsozialistischen Manifestation unterstrichen: das notwendige Scheitern jedes Bestrebens nach Eindeutigkeit und Normierung.
Dass sich bestimmte Akteure dieser in ihrer eigenen Dekonstruktion befindlichen Stadt dazu bereiterklärten, die Veranstaltung unkompliziert und konkret zu unterstützen (und dadurch überhaupt erst ermöglichten), ist hinsichtlich des Umgangs mit den Herausforderungen und den Problemen, vor die sich Eisenhüttenstadt gestellt sieht, durchaus ein Hoffnungsschimmer. Die große offene Frage bleibt, inwieweit sich die Stadtbevölkerung auf so ein primär auf Partizipation ausgerichtetes Projekt einzulassen bereit ist. Inwieweit also bei ihr – um es mit ein bisschen mehr Überschwang zu fassen – die Bereitschaft zur Akzeptanz von sowie die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Utopien besteht.