Da, wie ich heute aus selbstsicherer Quelle erfuhr, der Weltuntergang erst am 21.12.2012 und nicht etwa mit dem Schneetief Daisy („push it up, push it up“), stattfinden soll, bleibt nach wie vor Gelegenheit, immer wieder mal zu kleinen Wanderungen durch das Mark der Eisenhüttenstadt aufzubrechen und die Eindrücke etwas unsortiert auszudrücken, die sich wie von Kinderstiefeln hingestiefelte Traktorspuren auf den Schneefeldern des ehemaligen VII. Wohnkomplexes durch das schmale Sichtfeld der windbedingt zusammengekniffenen Lidern ziehen.
Mit fest geschnürtem Schneeschuhwerk betritt man also den Eisenhüttenstädter Mikrokosmos, der sich tatsächlich ein stückweit in Eis- und Endzeitstimmung präsentiert. Oder wie ein eigenartig Wirklichkeit gewordener Traum von einem verpassten Stelldichein im Stadtpark in Workuta. Nur in ganz hellen Momenten erspäht man den einen und dann auch noch den anderen dunklen winterjackenaufgepumpten Oberkörper, der sich wie beschwipst und flankiert von teilweise hüfthohen Schneeverwehungen durch die aufgeschaufelte Sonntagsruhe bewegt. Zwei junge Männer mit Trucker-Käppies schlurfen durch die so menschen- wie mieterleere Fröbelringpassage und rufen dem Winter ein trotzig-überdrehtes „Yo Alter!“ als Salut zu. Die Jahreszeit revanchiert sich dadurch, dass sie den Mittelschülern ein paar Eiszapfen in Traufhöhe über den Kopf hält und sie daran erinnert, wer hier in der Mensch-Natur-Relation eigentlich der Dionysios ist und wer sich als Damokles fühlen muss. Wenn schon nicht alles vergänglich ist, so lässt sich doch alles wenigstens einfrieren, egal wie cool es sich auch gibt.
Weiter hinten, wo Otto Schutzmeisters leider immer noch von einem albernen silbernen „Bitch“-Schriftzug beeinträchtigen Mosaik-Kosmonauten der kosmischen Kälte mit einem orangenen Schutzanzug trotzen, schwärmen Vögel in einer Höhe, die die Kosmonauten räumlich nie erreichen werden und auch die Bewohner des nebenan stehenden Hochhauses müssen sich ins Obergeschoß begeben und sich dort weit aus dem Fenster hängen, um in Vogelaugenhöhe zu sein. Von diesem Ausguck zeigt sich deutlich der besondere Zauber, der aus der Kombination deckweißer Schneeklumpen und tannengrünem Nadelgehölz, hier Modell Kiefer, ergibt. Diese Tönung aus weißgedeckter Friedlichkeit wirkt zurück auf die Gesamtstimmung des Stadtraums, der sich so sauber und erstarrt präsentiert, wie man sich ein Weltende erhofft, mit dem man leben könnte.
Der Unterschied zum üblichen Sonntagserleben des Stadtbilds liegt dabei vor allem in seinem oberflächlich makellosen Äußeren und weniger in seiner ein wenig starren Verfasstheit – würde so mancher jetzt mit aller ortsüblichen Impertinenz sagen. Wir jedoch kennen die ersten Frühlingssonntage noch aus eigener Anschauung und nicht nur vom Hörensagen und wissen, dass es im Jahreslauf immer eine Handvoll Wochenenden gibt, in denen in Eisenhüttenstadt Flaneure beinahe so häufig sind, wie heute Amseln am Vogelbeerenbusch. Und ähnlich flatterhaft. Drei Frühlinge hat die Menschheit auch dem neuesten Maya-Kalender noch vor sich. Die gilt es zu nutzen. Also lautet die Antwort auf:
Could this really be the end? wie es die virtuos avantgardistische Emily Well (wer es findet, sollte sich unbedingt ihr Notorious B.I.G.-Cover "Juicy" anhören..) gerade im Radio fragt, für heute erstmal
nein. Jedenfalls wollen wir es weder hoffen noch vermögen wir es, zu glauben.
Gleiches gilt hinsichtlich Tätigkeit und Dauer für die Emily Well'sche Zeile:
“I feel a game of hide and seek/That could easily last for weeks”
Zugegeben – wer sich heute versteckt, den sucht keiner mehr. Wer jetzt ins weiße Rauschen sinkt, der wird es lange bleiben. Aber doch nicht für Wochen. Zudem kreiseln auch in den Mietwohnarealen der Stadt die kleinen orangenen Räumfahrzeuge und sorgen aufopferungsvoll für eine Mindestbegehbarkeit der Wege. In den den eigenheimlichen Vorstadtsimulationen Eisenhüttenstadts graben sich dagegen zahllose Eigenheimler in Halbstundenschichten durch ihre Räumpflicht und dies augenscheinlich nicht ohne Freude. Da legt man auf die saisonadäquate Leibesertüchtigung gern noch mal eine Schippe drauf.
Und man kommt ins Gespräch: Egal wo der Flaneur lauscht oder mitschwatzt: Der Schneefall namens Daisy ist Thema Nummer 1, 2 und 3. Die Personifizierung meteorologischer Ereignisse hilft übrigens in der Kommunikation ungemein. Die geschickte Besetzung dieses Tiefdruckgebietes hat dabei zugleich, und dies wird vielleicht die letzte notierte Erinnerung daran sein, den Namen im Assoziationszusammenhang mit einem Yorkshire Terrier, mutmaßlichen Mordzeugen und Hauserben aus München schlicht zugeweht.
Niemand hier erinnert sich nun mehr an den Hund, wohl aber an einen Muskelkater, wenn er sich zukünftig abends zum Tatort an der Hausbar einen Brandy Daisy zusammenmischt.
Mindestens eine gehörte (allerdings nicht schaufelnde) Stimme zeigte sich sogar einen Tick weit enttäuscht, dass sich ihrer Meinung nach nicht so viel auftürmt, wie angekündigt. Das nennt man dann wohl Daisyderatum Wer jedoch unterm Schrägdachfenster wohnt, vermisst etwas anderes, denn er wird morgens nicht mehr vom Lichte wach und liebt diesen Höhlenzustand nicht unbedingt. Nach Sonnenuntergang – als ob es Sonne gäbe in diesen Tagen – stört dies dann nicht mehr und umso mehr nach dem man die schockgefrosteten Füße aus den nicht hoch genug abschließenden Winterwanderschuhen wieder herausgezogen hat und das aufregende Kribbeln der sich revitalisierenden Zehenspitzen erlebt. My home is some iglu und zwar – im Unterschied zu den zeitweise vom Strom abgeschnittenen südbrandenburgischer Landgemeinden – ein wohlbeheiztes.
Wie man nun so mit einem heißen Aronia-Saft aus dem Fenster in die Landschaft schaut, über die Kübel um Kübel Neuschnee schüttet, dass es aussieht, als wohnte über einem eine alte Frau, die wie wahnwitzig ein defektes nach dem anderen Federbett ausschüttelt, fällt einem im eisblumigen Gehirn nur noch Durs Grünbein ein, dessen Name zwar nicht ganz in den Januar passt (denn, Vorsicht erzwungener Literatur-Kalauer, Durs muss dieser Tage keiner leiden. Zur Not schmelze er sich einfach etwas Schnee von heute.), der aber in seinem Descartes-Meditationsbändchen das Lebensgefühl dieses angehenden zweiten Jahrzehnts des 21sten Jahrhunderts wunderbar in Versform goss:
Monsieur wacht auf. Es hat geschneit die ganze Nacht.
Soweit das Auge reicht auf einer weißen Fläche,
Schmückt sich das Land mit weißen Kegeln. Es sind Bäume,
Die mit der Winterhand der große Arrangeur
Veredelt hat. Man sagt, Ihr schätzt ihn, seinen Spieltrieb,
Der Türmen Hauben aufsetzt und die Dächer deckt
Mit kalten Daunen. Sein kristallenes Flanell,
Gewebt aus Flocken, polstert faltenlos die Fluren aus,
Bis alle Welt verzaubert ist und tief verschneit –
Ein Foliant mit weißen Seiten, die nur er beschreibt.
(Durs Grünbein: Vom Schnee. Frankfurt/Main, 2003. S. 13)
Dies soll es auch gewesen sein mit
Monsieur Flaneur und seinem knappen Eindruck von einer kurzen post-daisyanischen Tiefschneeexpedition und auch mit dem Einstandsartikel unseres Weblogs in dieses Jahrzehnt. Wir wünschen allen Lesern, dass sie dieses so genießen, wie so manche gut verpackten Kinder heute ihre Schlittenpartien auf den Rodelhügeln der Stadt. Mitzugeben ist den Messieurs Flaneuren, die jetzt noch losziehen, um in dieser Nacht durch das Winterland zu scharwenzeln, eine wunderschöne winterliche Formulierung aus einem jüngeren Gedicht der einzigartigen Friederike Mayröcker:
Schneerosen blühten in dem weiszen Feld : da war die Lauterkeit die Weisheit seiner Seele
Allen anderen sei ein Gruß zur Guten Nacht geboten.