Immerhin dürfte eine in der heutigen Ausgabe erschienene "Reportage" von Claudia Weingärtner mehr Aufmerksamkeit auf Eisenhüttenstadt gelenkt haben, als die meisten Stadtbild vermittelnden Aktivitäten der letzten Jahre. Der BILD-Leser erfuhr immerhin auf Seite 7 sauber bebildert: EINE STADT STIRBT. Solch eine resolute Überschrift stellt vermutlich den GAU für jedes Stadtmarketing dar. Eisenhüttenstadt wird abgeschrieben und das kurz und knapp und mit Massenauflage.
Die Haupttodesursache liegt in der Abwanderung: "Einen solchen Rückgang gab es in der Region zuletzt im Dreißigjährigen Krieg!" - liest man mit Ausrufezeichen. Dass zu dieser fernen Zeit in dieser Region allerdings eine in absoluten Zahlen völlig jenseits der sinnvollen Vergleichbarkeit stehende Siedlungsdichte vorlag, ignoriert man selbstredend um der Zuspitzung willen. Die Stadtentwicklerin Christiane Nowack strahlt dennoch als einzige Person im Text etwas überraschend angesichts der Veheerung, mit der die demografische Entwicklung gleich der blutfetten Schwerter und der donnernden Kartaunen, mit denen der Schwed' durch deutsche Lande fuhr, die Stadt ins Mark trifft, eine gewisse Gelassenheit aus: "Unsere Stadt wird kleiner, aber nicht
Schluckspecht-Wirt Andree Grapenthin sieht das vollkommen anders, schließt seine Schenke an der vom Stadtumbau eingeschrumpften Holzwolle und zieht die Bilanz: "Hier stirbt einfach alles aus [...] [d]as macht auf Dauer depressiv. Für mich war's das hier." Ob er sein Geschäft oder die Eisenhüttenstadt meint, bleibt im Schatten seines Lokals. Desweiteren verrät der Artikel, dass derzeit im Kiefernweg 14(!) Häuserzeilen abgerissen werden und weiß damit mehr als die Realität und höchstens weniger als vielleicht Andi "Schliemann" Leser, der immer wieder mal neue Ecken des verschwundenen Wohnkomplexes (und alte Populärmusik) ausgräbt. Und Horst Kramer war - so weiß es exklusiv BILD - 20 Jahre (!) Direktor des 2005 (statt 2007) abgerissenen Fürstenberger Gymnasiums. Liegt solche faktische Unschärfe noch auf der Stilmittelpalette des "Neuen Journalismus"? Eine Gymnasium gab es im Jahr 1985 - so das zu den Fakten passende Einstiegsjahr des Direktors in die Neubauschule im WK VII - in Eisenhüttenstadt nicht. Das Abitur legte man dereinst im Idealfall an der EOS, weitaus öfter mit Berufsausbildung und nicht selten nie ab.
Allerdings war die BILD-Reporterin zu diesem Zeitpunkt erst im Krippenalter, weshalb eine realweltliche Erfahrung mit diesem Zusammenhang nicht unbedingt zu erwarten ist. Eine allgemeine Sorgfalt in Bezug auf Daten aber, selbst wenn man für BILD und gerade ("Fakten, Fakten, Fakten"
Was man ihr aber zugute halten muss und wofür sie ausdrücklich ein Lob verdient, ist der Einstieg in ihren ansonsten in jeder Hinsicht traurigen Artikel. In diesem spannt die junge Reporterin vermittels eines Zitates eine feine Linie zwischen Gilbert Grapes Erkenntnis über das Leben in Wirklichkeit nicht existenten kleinen Stadt Endora, Iowa (a town where pretty much nothing ever happens) mit der bald anscheinend nicht mehr existenten Wirklichkeit der kleinen Stadt Eisenhüttenstadt, Brandenburg: "Hier zu leben, ist wie tanzen ohne Musik". In Eisenhüttenstadt "spielt die Musik schon lange nicht mehr." Aber tanzt man hier wenigstens, z.B. mit "Tears in my Eyes"? Rhythm is a Dancer lautet eine Alltagsweisheit und wer nahe den Abrissgebieten wohnt, kann sich in der Tat den Break Beats in den Zeitfenstern eines normalen Werktages kaum entziehen.
Mit ihrem Schlußsatz verholzt die Autorin die zarte poetische Bindung zwischen der Geschichte, in der die Jugend das Haus der Mutter niederbrennt, um deren Würde zu waren, und der (mehr oder weniger) Jugend, die ihre Mutterstadt verlässt, weil es ihr - laut Artikel - zu langweilig ist, aber wieder in einem zu profanen Zirkelschluss. Denn Schluckspecht-Wirt Andree Grapenthin, der fort aus Eisenhüttenstadt möchte, egal wohin ("Weiß nicht, Hauptsache weg"), weiß eigentlich schon wohin: "in eine bessere Welt". Für Claudia Weingärtner bedeutet der Weg in die bessere Welt den Aufbruch "Dahin, wo die Musik spielt." Und die spielt in 127 Tagen in der Lindenallee. Also bleibt man vielleicht doch wieder hier?
BILD dir deine Heimat!
"Aber so schlimm wie hier ist es nirgendwo", weiß die BILD-Reporterin und die, so darf man annehmen, hat schon so einiges gesehen. Grund genug, den Abend mit dem größten Hit aller Ultravox-Zeiten zu schließen, dessen Text wie kaum ein zweiter auf die Lippen all derer passt, die den Mietlaster mit den Umzugskartons aus der Stadt lenken:
"Aber so schlimm wie hier ist es nirgendwo", weiß die BILD-Reporterin und die, so darf man annehmen, hat schon so einiges gesehen. Grund genug, den Abend mit dem größten Hit aller Ultravox-Zeiten zu schließen, dessen Text wie kaum ein zweiter auf die Lippen all derer passt, die den Mietlaster mit den Umzugskartons aus der Stadt lenken:
Weeping for the memory of a life gone by/
Dancing with tears in my eyes/
Living out a memory of a love that died
Und zurück:
It's five and I'm driving home again/
It's hard to believe that it's my last time
Und während in der BILD-Zeitung Mandy, Manuela und Catharina vor dem Kosmetikgeschäft neben dem verlassenen Lunik "der letzten richtigen" Diskothek nachtrauern, wollen wir wenigstens als Fußnote unser Bedauern darüber formulieren, dass der Restbahnhof Eisenhüttenstadt zum 1.April endgültig die Fahrkartenausgabe verloren hat. Die Bahn macht mobil und setzt auch ihr Zeichen in den dichten Text, den man an sovielen Ecken zu lesen bekommt: "EINE STADT STIRBT".
Foto: komplex** auf Flickr
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