Im Sommer 1995 balancierte in der Sommerfrische am Ufer des Helenesees eines Nachmittags, als bereits eine Schirmmütze der Bekleidung zuviel schien und bestenfalls ein so genannter Visor - also der Schirm ohne Mütze - zum Schutz der Augen vor der Sonne herangezogen wurde, ein junger, rothaariger Mann im Langarmshirt und tiefhängender, etwas derber Jeanshose an der Promenade herum, sah dann und wann auf die sich im Extremfall schwarz bräunenden Ostbrandenburger, strich sich die eine oder andere Strähne, die ihm in sein Gesicht fiel, wieder zurück und wirkte mehr als etwas deplaziert.
Nun war dies eine Zeit, in der man an den Schuhen seines Gegenübers deutlich das eine oder das andere ablesen konnte. So z.B. im konkreten Fall, dass es sich um einen Anhänger der Rollbrettfahrkunst, wie manch älterer Beobachter des in dieser Region Deutschlands zu diesem Zeitpunkt eher seltenen anzutreffenden jugendlichen Stadtsports als Umschreibung bemühte, handelte. emAirwalk war zwar in den USA bereits auf d besten Weg, ein Massensportschuh zu werden und setzte 1995 so um die 175 Millionen Dollar um. In Ostdeutschland blieb die Marke aber noch weitgehend ein der Skateboardszene verhaftetes Nischenprodukt und es sollten weitere zwei Jahre ins Land gehen, bis Airwalk GTO in sortierten Farben auch in der Deichmann-Filiale des Eisenhüttenstädter City Centers verramscht wurden. Und selbst dann nicht mit den typischen Abriebspuren auf dem Wildleder. Man selbst trug einen Eigenimport, erworben bei Cal Surf, 1715 W. Lake Street Minneapolis im Herbst davor. Was genau der junge Mann mit dem roten Schopf an den Füßen trug, ist nicht mehr rekonstruierbar, aber es war in dem Fall das Richtige um die Gemeinsamkeit herauszulesen. Ein Skateboard hatte keiner von beiden dabei, aber ein gemeinsames Gesprächsthema und jeweils eine Telefonnummer.
Ein paar Tage später rollte und hüpfte der junge Amerikaner, der sein Schulhalbjahr ausgrechnet in Eisenhüttenstadt verbringen sollte, wo man nordamerikanische Jugendbegegnung vorrangig mit den Missionsbrüdern der Church of Jesus Christ of Latter-day Saints verband, welchen bald nach 1990 im VII. Wohnkomplex eine sozialistische Plattenbauwohnung angemietet wurde, auf dass sie mit Sprachkursen und Straßenbasketball den Zugang zu den traditionell eher glaubensfernen Stahlstädtern fänden, mit dem jungen Deutschen über Stock und Bordstein der Wohnkomplexe und ihrer Straßen.
Er, the young American, war sichtlich glücklich, einen halbwegs Gleichgesinnten gefunden zu haben, denn obschon in recht prominentem Gastelternhaus etwas außerhalb der Stadt unterkommen, teilte der dortige Sohn und damit unmittelbare persönliche Bezugspunkt diese Vorliebe überhaupt nicht und hegte daher keine sonderliche Ambition, mit seinem Gast aus dem Mittleren Westen der USA den heißen August auf einer damals noch bezaubernd übersichtlichen und neuen Skateboardbahn im äußeren Osten Brandenburgs zu verbringen. Man zeigte sich die Tricks, die man sich zeigen konnte und der fremde Junge, der immer den letzten Zug nach Finkenheerd bekommen musste, integrierte sich mit großem Vergnügen und so gut es ging in die schmale, rührend naive Hip-Hop-Szene der Stadt, die sich glücklicherweise in Bahnhofsnähe ein verlassenes Geschäftshaus nebst großer Liegenschaft als Treff-, Sammel- und manchmal Ausgangspunkt für dies und das erkoren hatte, obschon der Besucher lieber Nine Inch Nails hörte und zwei derer CDs auch nach der Abreise von dem zurückzufordern vergaß, dem er sie geborgt hatte.
Dieses eigenartige Eisenhüttenstadt musste auf einen jungen Amerikaner durchaus exotisch wirken, etwas sowjetisch vielleicht am Platz des Gedenkens, in jedem Fall in ihrer Stadtanlage und Architektur bis auf die geradlinigen Straßenverläufe eher abweichend vom Surburbia der Herkunftswelt, auch wenn ihn sein deutsches Schulhalbjahr dann doch nicht in die Planstadt, sondern in ein Einfamilienhaus auf dem Lande führte. Was ihm auffiel, fotografierte er mit seiner kleinen Analogkamera, denn von den heute üblichen digitalen Apparaten wusste man noch gar nicht, was sie sein könnten.
An der Eisenhüttenstädter Feuerwehrzentrale nahe dem Kanal, der gegenüber einst noch die Spielhalle stand, faszinierte ihn ausgerechnet und für den deutschen Begleiter überraschend eine silbergraue Mülltone und dies umso mehr, als der letztere vom ersteren gebeten wurde, neben ihr doch hoch und fotogen samt Skateboard durch die Luft zu fliegen, auf dass dieser Moment für die Nachwelt daheim auf den Kleinbildfilm gebannt werde. Man tat wie gebeten, sah nie einen Abzug, erfuhr aber im Anschluss unverzüglich den Grund der Faszination: In schwarzer Farbe auf das Silbergrau gemalt stand etwas, was im Deutschen den eigentlichen Standort der Abfalltonne bezeichnet, im Englischen aber homographisch die vierte der sieben Todsünden meint: den Ingrimm, den Zorn, die Rachsucht und wer seine Tochter Ira nennt, wird sicher nicht bedenken, dass dies auch die lateinische Ausdrucksform solchen Grollens ist und nicht nur die Verkürzung von Irina.
Kurz: Auf der Tonne stand geschrieben:ANGER. Etymologisch verwandt mit dem deutschen Angst und vom Frontmann der in den frühen 1990ern sehr populären Rap-Metalheads Rage against the Machine im Song Freedom als Geschenk zwischen all das Herausgewütete über "Forget about the Movement" und "Tic Tac Toe" so leis geflüstert, dass man, wie es bei Rage against the Machine ohnehin als empfehlenswert galt, genau zuhören musste: "Anger is a gift." Bei den Liveversionen hörte man es deutlicher. Ob der Anger im Eisenhüttenstädter V. Wohnkomplex, dem man auch noch einen Club zufügte, von der Stadt auch als Geschenk (oder, oha die zweite Homographie in einem Satz, als Gift) gesehen wird, darf angesichts des heutigen Zustands der Anlage gern einmal hinterfragt werden. Nämlich und zugleich andererseits streckt sich die etymologische deutsche Wurzel nahe dem, was z.B. auch dem dänischen Wort eng zugrunde liegt: einer Wiese.
Der deutsche Anger war einst die Gemeinde-, nicht etwa die Augenweide bzw. wurde das Wort auch für den zentralen und oft grasbewachsnen Dorfplatz verwendet. Eisenhüttenstadt als sozialistische Stadt hielt sich nicht so recht ans Dörfliche, auch wenn es um Kollektivbesitz ging, wollte doch lieber was für's Auge und legte querbeet Rosenrabatten mit automatischer Bewässerung an, zwischen denen gelbe und rosa Gewegplatten und manchmal dunkelgrün gestrichene Parkbänke zwar das Platzartige, aber nicht das Grasige betonten.
Die nicht mehr sozialistische Stadt Eisenhüttenstadt überließ und überlässt die Anlage dagegen dem freien Spiel der Kräfte, die beispielsweise schon mal sämtliche Schaufensterscheiben der dortigen Kaufhalle in einen irrtümlich als glückverheißend angesehenen Zustand versetzten. So grünt der Anger mittlerweile auch dort und dörflich einsam, wo man an Juni Nachmittagen mit dem frühen Skateboard aus dem Schwab-Bestellcenter in der Saarlouiser Straße, dessen Besitzer bei der Gelegenheit derart unfreundlich war, dass man in der Folge lieber direkt im Katalog bestellte, samtweich im Slalom durch die Einkäufer in die Schule zum fakultativen Französischunterricht sausen konnte. Heute würde es wohl eher holpern, denn die Platten brechen auseinander, die Schule ist keine solche mehr und ohnehin ist alles eher erdverbunden.
Daher kann wer jetzt in der Nachbarschaft wohnt und zufällig Kuh, Schaf oder Ziege besitzt, sein Tier dort vermutlich halbwegs unbehelligt weiden lassen, sofern es robust genug für den eventuellen Schabernack der Kinder ist, denen das nächste Glashaus in Gestalt der einstigen Schule V immer seltener mehr als einen Steinwurf entfernt zu sein scheint. Nicht nur der "Fachmarkt", von dem ein Schild an der Pappfassade seit längerem verkündet, dass man ihn auch in diesem Zustand noch unter der Telefonnummer eines u.a. auch auf Zwangsversteigerungsrecht spezialisierten Rechtsanwalts und Notars aus Oberursel im Taunus mieten kann, demonstriert, dass "nicht kümmern" synonym mit "verkümmern" steht.
Der nette Investor aus dem Hochtaunuskreis hatte sicher auch etwas anderes im Kopf, als er hier in eine Immobilie investierte, die ihm über die Jahre jedoch ganz offensichtlich nicht allzu sehr ans Herz gewachsen ist. Und zu einer anderen Nutzung als dem Liegenlassen der Liegenschaft zwingen kann man einen Rechtsbeistand aus Hessen bestimmt nicht. Infolgedessen demonstriert die Harmonie und Ruhe suchende Stadtgesellschaft doch lieber Solidarität und passt sich der Auffassung an, dass Anger solcher Art weder mit Liebe noch mit Zuneigung in Entsprechung zu setzen sind und daher besser ein alles befriedendes Gras über diese sozialistische Stadtanlage wächst. So jedenfalls sieht es aus. Zu Unrecht, wie zwei bekannte Flickr-Eisenhüttenstadt-Fotografen meinen und fast wie auf Absprache, aber eben erstaunlicherweise ohne diese, eine Ecke des Platzes aus nahezu identischer Perspektive am Tellerrand der Stadtentwicklung zeitgleich ins Internet stellten:
Bei komplex**scheint die Stadt nach links zu kippen und dies auch noch mitten im Sommer. Als es hier noch Schulbetrieb und gegenüber im Club am Anger noch Schulspeisung gab, sorgte die Überdachung dafür, dass auch an regnerischen Herbsttagen kein Schüler pitschenass zum Lungenhaschee gelangte. Bei den Frühlingsappellen konnten sich dagegen die Neunt- und Zehntklässler der Schule in ihren blauen Hemden dort mit aller Stimmen "Freundschaft" ihren Schattenplatz suchen und dem O-Ton zu Juri Gagarins Weltraumfahrt lauschen.
Auch in der dunklen Jahreszeit ist dieser Winkel manchmal sonnig und im Gegensatz zur Komplex-Aufnahme gelang es e.i.h.ü.stiques einen Reisenden an einem Wintertag ins Bild zu bauen. Die Wege sind geräumt und der Schnee zum braunen Trampelpfad zertreten, so dass man davon ausgehen kann, dass entweder dieser Mann mit seinen zwei Taschen den ganzen Tag zickzack übern Anger irrt oder einfach der Platz auch als Zwischenraum zwischen Ausgangspunkt (Innenstadt, Krankenhaus) und Ziel (Rosenstraße, Birkenweg, Insel) nach wie vor nützlich ist.
P.S. Was flickr bei der Gelegenheit übrigens auch verrät, ist, dass unsere kleine, randlagige Eisenhüttenstadt im dortigen Sammelbecken "desolate germany" nach der Hauptstadt Berlin und dem schönen Köln aktuell den dritten Platz in der (nicht repräsentativen) Städtewertung einnimmt. Das ist doch mal was.