"Abends im HO-Gästehaus entdeckt Ursula auf der ersten Seite der Frankfurter Bezirkszeitung "Neuer Tag" eine wichtige Volkskorrespondenten-Meldung: Die Kumpel des Hochofens IV überprüften den Stand ihrer Planerfüllung und beschlossen, den 11. Dezember 1960 als Plansilvester zu begehen. 20 Tage vorfristig am Ziel! Das ist ein großartiger Produktionserfolg, an dem der erste Schmelzer der D-Schicht, der Verdiente Aktivist und Volkskammerabgeordnete Günter Prillwitz, hervorragenden Anteil hat." (Glade, Heinz: Begegnungen in Stalinstadt. Berlin: Kongress-Verlag, 1961, S. 47)
Was konnte einem nicht alles begegnen, wenn man als Heinz Glade 1960 Stalinstadt besuchte und eine Art Reisebericht verfasste, der wohl nicht allzu lang im Buchhandel lieferbar war. Denn unglücklicherweise für Autor und Kongress-Verlag hieß die erste sozialistische Stadt bereits im November des Jahres, in dem die 10.000 Exemplare des kleinen roten Bändchens gedruckt wurden, anders. Wenn man die Konsequenz bedenkt, mit der in der Folge auf danach in den Kasten gegebenen anderslautenden Postkarten der Aufdruck "Stalinstadt" geschwärzt wurde, lässt sich kaum vermuten, dass die Volksbuchhandlungen dieses mit dem diskredierten und abgelösten Stadtnamen durchsetztes Büchlein weiter im offiziellen Verkauf hatten. Da hatte Glade im Folgejahr mehr Glück, denn der Gegenstand seiner vom gleichen Verlag publizierten Betriebsreportage Männer um die MZ : Begegnungen im VEB Motorradwerk Zschopau schloß erst letzte Woche entgültig die Motorradwerkspforten (vgl. auch hier).
Als Mitte der 1980er Jahre in einer Eisenhüttenstädter Schulklasse eine Art Erinnerungsheft herumging, in dem sich so mancher eintrug, den man inzwischen in den 25 Jahren erst durch zwei und dann durch ein Land gegangenen Jahre längst aus den Augen verloren hat, schrieb ein Junge namens Andy als Lebenstraum nichts Geringeres als eine ETZ 250 zwischen zwei der blauen Linien. Mit ein paar Aktivistenprämien hätte es im Fahrzeugführungsberechtigungsalter wohl gelangt, aber da gab es wiederum für diese Generation Träumer kaum mehr Chancen, sich überhaupt in der Produktion zu bewähren. Das Prämiensystem freilich lebte immerhin bei denen fort, die auch in der Folge die Produktionsmittel lenkten und leiteten, und so manche dieser besonderen Aktivistenprämien hätte gleich zum Erwerb des gesamten Motorradwerkes gereicht. Nur hieß keiner der Bonusempfänger Andy und so müssen jetzt jene MZs aus den Läden verschwinden, wie 1961 Heinz Glades Buch.
Selbstverständlich war die Prämie in der sozialistischen Planübererfüllungswirtschaft nur der niedere Ausdruck eines höheren Zieles, jedenfalls sofern ein Volkskorrespondent dieser oder jener Art offenen Ohres in der Nähe weilte, denn droben am Himmel Stalinstadts prankte der Leitstern des Aufbaus einer glückseeligen sozialistischen Zukunft. Dem blinzelte der Schmelzer vielsagend zu, bevor er zum Walzer und zur Sambalita ging und zwar in die Groß- und Tanzgaststätte Aktivist.
In dieser, die 30 Jahre und 20 Tage nach dem frühen Plansilvester ihr letztes eigenes in eigentlicher Funktion erleben durfte, ist es mittlerweile unabhängig von der Tageszeit kurz vor zwölf. So liest man es aus dem Munde des Architekten Sirko Hellwig abgedruckt, der, wie die Märkische Oderzeitung erfahren hat, Herausforderungen liebt, das Sanierungskonzept das momentan mehr Erinnerungs- als gastliches Objekt erstellte und heute im Interview zwei Spalten der Sonderseite zur Sanierung des Lokalgebäudes im "Oder-Spree Journal" der Lokalzeitung bekommt. Wand- und Denkmalamtsschimmel sind wohl die Zeberosse, die einer Umnutzung des als gastlichen Ort des Speisens in der mittlerweile nur noch bedingt geselligen und gastronomieaffinen Werkstadt nicht mehr nutzbaren Gebäudes lang im Wege herum galoppierten, die man aber jetzt zähmen kann und einen Glaskubus auf der Bierschwemme gibt es obendrein bzw. obendrauf (geplant).
Die abgebildete Zukunftsvision, die zeigen soll, wie altes Haus und neue EWG-Verwaltung in Harmonie zueinanderfinden, verspricht nichts Schlechtes, sofern man den etwas schleimig am Tresen lehnenden Vertreter mit den großen schwarzen Schuhen nicht jeden Tag dort treffen muss. Die MOZ, in persona grata Janet Neiser, sei gelobt für die ausführliche Berichterstattung, die es mit zwei von drei Artikeln auch ins Internet geschafft hat: In dem einen erfährt man, dass "Neue Büros entstehen, alte Bierschwemme bleibt" und zwar nicht etwa als Cafeteria nur für die EWGlisten, sondern direkt als Schankbetrieb. Ein Betreiber wird noch gesucht und hoffentlich gefunden. Aber bitte einer mit Sahne bzw. Stilempfinden, der nicht unbedingt Privatradiosender als Untermalung zum Herrengedeck in den Raum jagt, wie es in Ostbrandenburg leider nur zu oft Folklore ist. Motivisch passend wäre als Soundtrack sicher die Steel Guitar von Frank "Ferro" Ferera, aber da es bekanntlich kein Bier auf Hawaii gibt, wird sich wohl die Tradition des Gerstensafts gegenüber der, der Südseesehnsuchtsklänge, die in Eisenhüttenstadt nie eine war, behaupten. Oder es gibt eine Melange und zwar am besten eine Wiener (hier auch unbedingt Linzertorte und wenigstens Andi Leser weiß warum), so lässt sich fantasieren, denn ein wirklich schönes Café, in dem man nachmittagelang die Weltpresse durchblättern kann, hat diese Stadt noch nie gesehen. Also Traxlmayrs dieser Welt, zeigt euch.
Im Vergleich zu anderen HO-Gaststätten dürfte der Aktivist auch von verhältnismäßig vielen Österreichern besucht worden sein. Denn ironischerweise hat die einst als Teil der "Hermann Göring Werke" gegründete VOEST bei der Erweiterung eines einst nach Stalin benannten Stahlwerks mitgemischt. Nach Dienstschluß bot der Intershop im ersten Stock des Hotels Lunik eine repräsentative Spirituosenauswahl (Bols Blue Curaçao), aber eine blaue Stunde im Lokal schmeckte vermutlich auch mit Rumcola aus dem VEB Getränkekombinat besser. Genaueres ist nicht bekannt, aber wer um passende Anekdoten weiß, darf gern entsprechend kommentieren.
Der zweite Beitrag begleitet die Restauratorin Dorothee Schmidt-Breitung, die u.a. schon im Refektorium (=Speisesaal) des Klosters Neuzelle für das Restaurant im Aktivisten üben konnte, beim Rundgang durch das Haus und überliefert u.a. Folgendes:
"Es gibt sogar ein Bild im Stadtarchiv, da pafft Wilhelm Pieck im Aktivist genüsslich eine Zigarre", erzählt Dorothee Schmidt-Breitung.
Hier dürfte der Nichtraucherschutz einer Rekonstruktion des Raumgefühls nach historischem Vorbild jedoch die Grenze ziehen. Alles weitere dann hier: Das edle Haus wird entstaubt.