Mit dem neuen Jahr scheint auch der neue Winter endlich anzukommen. Jedenfalls flockt es Flöckchen um Flöckchen aus der Wolkendecke, die konsequent den Lichteinfall auf die Plätze und durch die Fenster der Eisenhüttenstädter auf ein beinahe als polar zu empfindendes Minimum herunterfiltert. 15 Uhr beginnt die Nacht! (gefühlt) und wer jetzt keinen Grund hat hinausgehen, tut es nicht mehr. Es ist zwar zum 45sten Jubiläum noch ein bisschen hin, aber sobald sich die Minusgrade in die Gesichter graben, quillt sie einfach hervor, die Erinnerung an die "Frostschlacht" um die Gleisanlage an der Masselgießmaschine, die am 27. Februar 1963 von der 56. Hundertschaft der Kampfgruppen des EKO gewonnen wurde. Heute im Arcelor-Mittal-Werk hat man ganz sicher andere Enteisungsverfahren für den Fall der Fälle irgendwo hinten im Lagerhaus, aber entsprechend entfremdet erscheint auch manchmal der Arbeiter von seinem Werk, das nunmehr auf den heroischen Einsatz der Kampfgruppenhunderschaften und obendrein auf die Hunderschaften selbst verzichten kann.
Nicht verzichten können Werk und besonders Stadt auf kreative Köpfe, die sich mit Idealismus in womöglich aussichtslose Unternehmungen stürzen, um in der Frostschlacht der grimmigen Ökonomisierung des Lebens kulturelle Kontrapunkte zu platzieren. Ein solcher Kopf könnte der Musikus Alex Q sein, der, wie ich gerade in den ewigen Weiten des Internets entdecken konnte, tapfer in der Straße der Republik ein Label für elektronische Musik mit dem Namen Farb-Ton Records betreibt. Für den Berliner Techno-Informationsdienst milaro.com wurde der gebürtige Meissener, der, wenn ich richtig zähle, 2008 sein 20jähriges Stadtjubiläum feiern wird, im August 2007 u.a. zu seiner Veröffentlichung "Kleinstadtfeeling" interviewt. Allerdings verlässt sich die Interviewerin Nicole Erdmann gleich bei der ersten Frage zu sehr auf die subjektive Erwartung und Unmittelbarwahrnehmung und fragt daher etwas inkorrekt:
Unser Sozialgeographenherz mag bei solcher Überdehnung gängiger Gemeindedefinitionen beinahe zerspringen: Eisenhüttenstadt war schon zu Paul van Dyks Geburtstag Mittelstadt und bleibt dies nach wie vor trotz aller Schrumpfungsprognosen, denn die magische Grenze zwischen Klein- und Mittelstadt liegt bei erfassten 20.000 Einwohnern, egal wie fidel diese dann wirklich im Stadtleben sichtbar werden.
Alex, wir haben uns beide gerade das Set von Paul van Dyk angehört. Der heutige Weltstar ist ja wie du ein Sohn der Kleinstadt. Denkst du, dass es Künstler deren Heimat das Kleinstadtgefilde darstellt, es schwerer haben den Durchbruch zu schaffen?
Ansonsten liest sich das Interview, für das man auf dieser Seite etwas nach unten scrollen muss, flott weg und man erfährt auch recht präzise, wie das "Kleinstadtfeeling", welches in diesem Fall unmittelbar im Eisenhüttenstadt-Gefühl wurzeln dürfte, seinen tonkünstlerischen Ausdruck erhält:
Sehr angenehm ist, dass hier eine Ausgewogenheit angestrebt wird, die das robuste Stahlarbeiterstädtchen nicht unbedingt durch die stereotypische Brille assoziiert: Die ganz normale Stadt in der ein ganz normales Leben möglich ist - sogar mit dem "Chaos und Stress eines Arbeitslebens". Die Titel "Structured Rhythm" und "8 p.m." kann man auf der MySpace-Seite des Künstlers hören, das alles kumulierende "Kleinstadtfeeling" gibt es im Farbton-MySpace-Portfolio.
Der Titel „Mono“ steht für die gradlinige Monotonie, die sich mitunter im alltäglichen Leben einstellt. Der Arp- Syntheziser(sic!) am Ende des Tracks soll für den Versuch eines Ausbruchs aus der Eintönigkeit stehen. „Structured Rhythm“ hingegen steht eher für die ruhigen Momente: Im Park chillen, Freunde treffen – die Vorzüge einer Kleinstadt genießen. Im Gegensatz dazu steht das beatlastigere „8 p.m.“, das Chaos und Stress eines Arbeitslebens verdeutlichen will. „Kleinstadtfeeling“ verbindet schließlich alle Facetten des Kleinstadtlebens.
Und selbst wenn sich beim Hören der soliden Electronica-Titel nicht unbedingt und zwingend die Landkarte der Kleinstädterei ausbreiten möchte, sondern man eher an Samstagnacht-Heimfahrten über metropole Stadtautobahnen denkt, so hat man hier auf jeden Fall Hüttenstadt-Pop der angenehmeren Art, der das Spektakel meidet und stattdessen einfach nett klingt. So etwas zu verzeichnen ist unbedingt Aufgabe unseres Weblogs und wir hoffen ganz eigennützig auf noch zahlreiche weitere ähnliche Fundstücke in den Weiten des WWW und in den manchmal kleinstädtischen Engen der Mittelstadt an der Oder.
Natürlich raschelt das "Suse" ohne "liebe Suse" von Alex Q (höre hier) im Vergleich recht wenig im Stroh, erinnert dagegen aber ein bisserl an die akustische Tapete, wie man sie sich u.a. auch im 1A Lauschgift um den Long Island Ice Tea spannen lassen könnte. Das ist aber ganz und gar nichts Schlechtes, schon gar nichts Provinzielles und eigentlich bringt der junge Tontüftler damit sogar ein bisschen flipsige Metropole in die gefühlte Klein- bzw. statistische Mittelstadt. Gern mehr davon.