Nun kann und sollte man Eisenhüttenstadt nicht unbedingt architektonisch allzu tief in einen Topf mit sowjetischen Stadtanlagen des sozialistischen Realismus vergleichen, wurde hier dann doch vergleichsweise dezent und mit kleinerem Maßstab eine Anlage in Anlehnung weitaus brachialere Stalinstadtplanungen verwirklicht. Aber die architektonische Parallele an sich ist natürlich gegeben und ein Hauptgrund für viele Besucher.
Insofern erscheint folgendes Exzerpt , das hier einfach mal ohne anderen Anlass, als dass sie sonst wieder im Regal verschwindet und sich niemand erinnern wird, fixiert werden soll, auch in unseren Blog-Kontext relevant. In den Erinnerungen an seine Jugendzeit schreibt der nicht ganz unbekannte italienische Architekt Aldo Rossi nämlich über z.B. den II.Wohnkomplex prägenden Architekturrichtung:
"[...] Von Russland liebte ich alles, die alten Städte gleichermassen wie den sozialistischen Realismus, die Leute und die Landschaft. Das Interesse für den sozialistischen Realismus diente mir dazu, mich von der ganzen kleinbürgerlichen Kultur der modernen Architektur zu befreien: Ich zog die Alternative der großen Strassen Moskaus vor, die weiche und provozierende Architektur der Metro und der Universität auf den Leninhügeln. Ich sah, wie sich das Gefühl mit dem festen Willen verband, eine neue Welt zu bauen. Nun fragen mich viele, was diese Zeit für mich bedeutete. Dazu glaube ich vor allem dies sagen zu müssen: Ich wurde mir bewusst, wie stark die Architektur mit dem Stolz eines Volkes verbunden ist. Wer immer mir die Schulen und Häuser zeigte, liess diesen Stolz spüren, die Studenten Moskaus ebenso wie die Bauern des Don. Ich bin nicht mehr in die Sowjetunion zurückgekehrt, doch bin ich stolz, die grosse Architektur der Stalinzeit verteidigt zu habe, die sich zu einer wichtigen Alternative zur moderne Architektur zu entwickeln vermochte, dann jedoch ohne klare Absicht aufgegeben wurde. [...]" - Rossi, Aldo: Wissenschaftliche Selbstbiographie. Bern: 1991, S. 65f.
So eine glühende Begeisterung wie die des Mailänder Architekten ist heute eher selten und auch nicht unbedingt opportun, da sie den Preis dieser zugegebeben in ihrer Konsequenz ästhetisch durchaus wirkungsvollen - und auf diese Wirkung hin wurde sie ja gemacht - Baukunst vernachlässigt. Den 21.000 Quadratmetern Mamor der Moskauer Untergrundbahnpaläste stand ein unglaublicher Verschleiß an Arbeitskraft gegenüber. Und selbst die über jede Individualität der hinter der Arbeitskraft stehenden Akteure hinwegsehende stalinistische Baueuphorie fand ihre Grenzen und zwar in den Dimensionen des von Stalin persönlich soweit in das "Erhabene" hinein vergrößerte Unterfangen des "Palasts der Sowjets".
In Stalinstadt spielte sich das Ganze auf einem weitaus bescheideren Niveau ab, schon allein, weil selbst nach dem eifrigen Bemühen zuvor, den Kollektivkörper zu totalisieren und trotz der Weltkriegserfahrung, die Vorstellung vom Wert des Individuums immer noch auf einem Niveau war, das eine derart brutale Ausbeutung für den Sozialismus verunmöglichte. Denn abgesehen von allen eventuellen utopisch-sozialistischen Herzensstürmen der frühen DDR blieb, so die Vermutung, die Frage, was man eigentlich persönlich davon hat, bei sehr vielen wenigstens eine Hintergrundmelodie. Zum Beispiel wenigstens die Chance, aufgrund guter Arbeit für den Aufbau des Sozialismus bei der Wohnungsvergabe bevorzugt behandelt zu werden. Das Heer der Arbeiter auf den Pyramidenbaustellen das Moskauer Metro konnte sich ein solches Summen angesichts der totalen Jubelgesänge und dem handfensten Tatsachenschaffen der stalinistischen Gesellschaftsstrukturierung eher nicht leisten. Die neue Welt kann nur total in Angriff genommen werden, wenn man möglichst alles, was an die alte erinnert, umpflügt.
Es ist natürlich nur eine dreiste Behauptung, über die man gerne diskutieren kann, aber der sozialistische Realismus wie er in Stalinstadt umgesetzt wurde - was sich übrigens am Übergang zum Heimatstil im WK III auch untersuchen ließe - war gerade nicht der Bruch mit der von Aldo Rossi so verabscheuten kleinbürgerlichen Kultur, sondern eher ein sozialistischer Anstrich für diese. Spätestens nach 1990, aber eigentlich schon immer, wenn man allein an die Kleingartendebatte in Stalinstadt denkt, hielt diese Farbe der sowjetischen neuen Welt überhaupt nicht mehr und gerade in den häufig genannten Vorzugsargumenten für die hiesigen "Arbeiterpaläste" wird des deutlich: Die Architektur und Formgebung selbst spielte, fragte man nach dem Besonderen der Wohnungen im WK II, keine Rolle; es geht heute weniger denn je um ästhetischen Eindruck und Raumgefüge, sondern um Ausstattungsmerkmale, wie den Balkon, das Parkett und den großzügigen Schnitt, sozusagen als die eigene Scholle im kollektiven Baukörper. An dieser Stelle wird dann schon mal so etwas Profanes wie die Frage nach dem Parkraum zum Politikum.
Während in Moskau die Stalinarchitektur nach wie vor ein ästhetisches Idealbild darstellt, das in Neubauten immer wieder zitiert bis imitiert wird, konnte sie sich in Ostdeutschland beileibe nicht derart verwurzeln. Dies mag in den schnellen Richtungswechseln in der baustilgeschichtlichen Entwicklung der DDR begründet sein, in der dieser sozialistische Realismus zwar eine gravierende, aber doch verhältnismäßig flink wieder verworfene Entwicklung darstellt. Die aktuellen Bewohner erfreuen sich an der guten Qualität der Objekte und ärgern sich - sofern kein Altvertrag vorliegt - vielleicht über die ziemlich hohen Mieten und es mag sogar manchen geben, der bewusst lieber in der Pawlow-Allee als im Fertighaus in Diehlo wohnt. Aber generell, so scheint es, wird ein wirkliches Interesse an der Formgebung und Architektur fast ausschließlich von Außen in die Höfe des II. Wohnkomplexes getragen.
Die Planstadtanlage steht also zwischen der weitgehenden Indifferenz ihrer Bewohner und dem meist rein ästhetisch-betrachtenden Interesse der Architekturtouristen. Der Wechselwirkung zwischen Form und gesellschaftlich intendierter Wirkung enthoben, ist sie als Lebensraum banalisiert und als Objekt der Architekturdebatten ohnehin musealisiert. Stadträumlich ist Eisenhüttenstadt eigentlich hoffnungslos überholt und darin mag das Deprimierende liegen, welches sehr viele Besucher und auch Bewohner zunächst sehr unbestimmt umfäng: Sie spüren, dass sie etwas vor Augen haben, was jenseits der Zeit liegt. Was den Sprung zurück in diese kaum schaffen kann. Für die Anforderungen der Konsumgesellschaft des Spätkapitalismus ist der Stadtraum schlicht untauglich und trotz massivem Bemühens eigentlich nicht zu retten.
Die jetzt moderne Architektur, von der sich in Eisenhüttenstadt in keinem der Neubauten nach 1990 etwas finden lässt und manche behaupten, es gibt hier seit 1990 keine Architektur sondern nur noch erschreckend billig gedachte Funktionsbauen, zeichnet sich dagegen durch ihre generelle Alternativlosigkeit aus. Sie ist fast durchgängig allem entkleidet, was über sie selbst hinaus weist. Insofern werden selbst die Räume Oberflächen. Auch das Element des "Stolzseins" auf seine Stadt klammert sich kaum mehr an stadträumliche Elemente, eher an Fußballvereine oder hier konkret an einen Jahrmarkt im August. Beides hat in Eisenhüttenstadt jedoch keine Substanz. Diese Stadt bleibt als Erinnerungsraum und Kuriosum. Es ist demnach schwer bis unmöglich, eine Perspektive zu entwickeln, die Stadtraum und Jetzt-Zeit gleichermaßen respektiert. Und das, was Signore Rossi am sozialistischen Realismus so liebte, hat im Ostdeutschland des frühen 21. Jahrhunderts, das sich einfach bemüht, ganz normal und lebensfähig zu sein und daran nach wie vor scheitert, ohnehin keine Bedeutung. Was bleibt, sind seine Erinnerungspunkte.
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