„Während in Westdeutschland die alten Rüstungsherren wieder an der Macht sind, Messerschmidt, Krupp und andere bereits wieder in das Rüstungsgeschäft eingestiegen sind und große Profite aus dem Kumpelmordsystem ziehen, zeigt unser Haushaltsplan klar, daß bei uns der größte Teil der Mittel für den Aufbau der sozialistischen Friedensindustrie ausgegeben wird. Nach wie vor gelten die weisen Worte des großen Stalin: „Wer für den Frieden baut, kann nicht für den Krieg rüsten!“
Kann es einen Zweifel geben, daß der gewaltige Aufbau des Eisenhüttenkombinates „J.W. Stalin“, die herrlichen Bauten der Stalinallee, die vielen Ausgaben für soziale und kulturelle Zwecke, wie z.B. die Feriengestaltung des FDGB, die auch in diesem Jahr wieder Hunderttausenden von Werktätigen fröhliche Tage der Entspannung ermöglicht, Werke des Friedens sind? Und um noch schöner und besser zu leben, deshalb also die Steigerung und die strengste Sparsamkeit.“
Interessanterweise griff man in der Lausitzer Tagebauregion – lieber noch als nach Bitterfeld zur Feder – zu einem Branntwein namens „Kumpeltod“, produziert vom VEB Vereinigte Getränkebetriebe Cottbus , der zum Teil als Deputatlohn an die Bergleute ging und mutmaßlich für viele Leberschäden verantwortlich zu machen ist. Dies nur am Rande.
Der Ausriss aus einer Ausgabe der Sächsischen Zeitung aus dem Juli 1953 ist jedenfalls typisch für die vergilbten Zeitungsreste, die interessanterweise nun beim Umbau der ersten Wohnkomplexe Eisenhüttenstadts aus den Fugen treten, in die man sie einst zum Lückenschluss schob, demonstriert sehr schön den proklamierten Anspruch der frühen Aufbaujahre und zugleich die Lebenslüge des Sozialismus'. Der letzte Satz erscheint jedenfalls aus der heutigen Perspektive als rückwirkende Rechtfertigung für die Normerhöhungen, die zum 17.Juni führten und als Entschuldigung dafür, dass so einiges im eigenen Land im Argen und so mancher nach wie vor im Elend liegt.
Solange der Zweite Weltkrieg als unmittelbarer, vom Adressanten erlebter Referenzpunkt bestand, war der eigene Friedenswille und die Unterstellung eines westdeutschen Kriegstreibens ein wirksames Argument dafür, dass die Lebenswirklichkeit weitreichend hinter dem utopischen Anspruch zurückblieb. Die „herrlichen Bauten“ der Stalinallee und wohl auch Stalinstadt, in die diese Zeitung und diese Welterklärung buchstäblich verbaut wurden, waren als konkreter Wohnraum nur für wenige relevant. Sie sollten aber republikweit als Anschauung dafür dienen, wie einmal alle leben werden, engagieren sie sich nur ausreichend für Frieden und Sozialismus. Seid bereit. Wenn es doch nicht so wird, wie das Wunschbuch der 1950er verspricht, lassen sich einerseits die als kriegstreibend erklärten Akteure des Westens und anderseits das mangelnde innere Engagement, die fehlende Identifikation mit dem Sozialismus vor alle anderen möglichen Ursachen als Schutzwall schichten.
Im Resultat stand ein auf dieser Rechtfertigung aufsetzendes, alternativloses Zwangssystem: Wer in den Urlaub will, muss für den Sozialismus sein. Jedenfalls dann, wenn die Freizügigkeit der Ferienplatzwahl umfassend eingeschränkt wird. Das paternalistische System versorgte die, die ihm aufrichtig dienten oder auf die es zunächst angewiesen war, mit allem, was sie zum Einrichten in diesem Leben benötigten und grenzte sie damit von denen ab, die sich nicht fügten und die es nicht brauchte. Der gute Alltag, so die Vorstellung, erledigt so manche Frage. Der eigene Lebensstandard ist naturgemäß für jeden normalen Menschen die Grenze jenseits der all das liegt, was unhinterfragbar wird. Beispielsweise die Frage nach der tatsächlichen Überlegenheit des Sozialismus, dem Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit. Die faktische Zweiklassengesellschaft der DDR garantierte eine gewisse Durchlässigkeit, in der man – je nach Verhalten – aufsteigen und gewinnen oder fallen und verlieren konnte. Kontrolliert blieb man immer. Schwierig wurde es dann, wenn äußere Faktoren, wie z.B. der 20. Parteitag der KPdSU zu einer inneren Relativierung bis vollkommenden Umkehr der Orientierungspunkte führten. Folgsamkeit allein genügte nicht, man musste ab einer bestimmten gesellschaftlichen Funktionsebene auch wendig sein.
Die frühen Planstädte waren beiderlei: Notwendigkeit und Symbol. Die DDR musste zwangsläufig eine funktionierende Stahl-, Energie- und Chemieindustrie aufbauen und sichern und dies möglichst in einem Loyalität erzeugenden Identifikationsrahmen. Da die Schrecken des Krieges und damit der Wert des Friedens nicht endlos als alleinige Legitimation zureichten, musste man die kommende, bessere Gesellschaft simulieren.
Stadt statt Heimat
In der Auswirkung versuchten die Planstädte das Kleeberg’sche Modell des Gartens in gewisser Weise nach außen zu kehren: Schönheit – was immer man darunter verstand – und Ratio. Sowohl Hoyerswerda wie auch Stalinstadt setzten auf grüne Stadträume als alltägliche Orte der Begegnung, der Öffentlichkeit, der Erzeugung einer Identität. Und als Aussichtspunkt für das fortschrittliche Leben, wie es eines Tages auch die Täler des Erzgebirges erreicht haben wird, wenn der Sozialismus nur irgendwann stark genug sei. In seinem Anspruch, keine anderen gesellschaftlichen Identifikationen neben sich zu dulden, erwiesen sich die Reißbrettstädte insofern als Glücksfall, als das sie die geographische Heimat der Bewohner, die aus allen Richtungen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen waren, in die Erinnerung schob. Die Verbundenheit auf der neuen Scholle galt nicht der Scholle selbst, sondern dem, was der Sozialismus auf diese pflanzte. Die Heimat hat sich schön gemacht und hieß spätestens seit der zweiten Generation nicht mehr Posen, Oelsnitz oder Apolda, sondern „Sozialismus“ im Kleid, das die jeweilige Planstadtgestalt diesem anzog. Vor allem aber hieß sie lange Zeit: „Zukunft“. Die Durchmischung auch der innerfamiliären Herkunftsstrukturen und die Verknüpfung der eigenen Jugend mit dem Aufbau dieser Städte dürfte diese Abnabelung vom geographischen Referenzrahmen beschleunigt haben, besonders dann, wenn Vaterland östlich der Oder-Neiße-Linie für immer verloren und abgebrannt schien.
Das falsche Leben im falschen
Im Zuge der Wiedervereinigung hat man diesen Fakt der geographischen Heimatlosigkeit und der Verbindung des eigenen Zugehörigkeitsgefühls mit einem nur mehr diskreditierten Symbol überhaupt nicht berücksichtigt. Vielleicht trügt der Eindruck, aber es scheint manchmal, als wären genau diese Städte besonders entweder für retrosozialistische Stimmungen oder auch für retronationalsozialistische Überlegungen besonders anfällig. Das erste aus Trotz, wenn man zu seiner Herkunft steht und es nicht erträgt, diese auf einmal zu Unwert erklärt zu sehen. Das zweite aus einem verzweifeltem Suchen nach einem Fixpunkt, mit dem man sich irgendwie arrangieren kann. Wenn die sozialistische Stadt schon keinen Wert hat, dann vielleicht doch die Nation als Ganzes. Deutschland, das ist eine Heimat, auf die man stolz sein kann. ..schland trug dabei dasselbe Problem wie die sozialistischen Symbolorte in sich: Man durfte aufgrund der Vergangenheit nicht stolz darauf sein. War man es doch, so gab man sich wenigstens den kleinen Anschein, die eigene Würde zu wahren, auch wenn diese nur ein Strohhalm, also faktisch innen hohl war. Die Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991, die die Stadt deswegen weltberühmt machten, weil sich Mob gegen den hier noch jungen Rechtsstaat mit Gewalt durchsetzte und die Asylbewerber nicht in der Stadt geschützt, sondern aus dieser evakuiert wurden, lassen sich nicht zuletzt auch daraus erklären, dass tiefverunsicherte Einwohner der Stadt demonstrieren wollten, wie sie trotz ihrer sozialistischen Geschichte zu einer übergreifenden nationalen Identität gehören und richtige Deutsche sind, die es verstehen, ihre Heimat zu verteidigen. Jeder Stoß ein Franzos, jeder Britt ein Tritt, jeder Schuß ein Russ – hier fand der peinliche völkische Chauvinismus, der im kalten Krieg der Gesellschaftssysteme 40 Jahre auf Eis lag, wieder eine willkommene Form. Mit der DDR ist die ohnehin sehr selektive Doktrin der Völkerfreundschaft vielleicht nicht ganz untergegangen, aber doch deutlich ramponiert worden und sollte sich aber doch möglichst fern vom eigenen Kral halten.
Nicht nur in Hoyerswerda, auch in einem Plattenbaugebiet namens Rostock-Lichtenhagen und auch in Eisenhüttenstadt zog, fast mittelalterlich anmutend, ein Strom der gefühlt oder tatsächlich Zukurzgekommenen mit Fackeln zu den neuen Asylantenheimen, um sich selbst die Zugehörigkeit zu einer Nation zu beweisen, von der man meinte, dass sie es nötig hat, sich gegen eine innere Zersetzung zur Wehr zu setzen. Dabei fand man nur einen einfach zu erkennenden und erkennbar schwächeren Feind, der aus Nirgendwo über Nacht präsent war. Keiner der Beteiligten dürfte zuvor viel Kontakt zu anderen Kulturen gehabt haben. Die befürchtete „Überfremdung“ war tatsächlich eine gefühlte kulturelle „Überforderung“, die das westdeutsche Wertsystem und konkret auch das Asylrecht mit einschlossen. Dass zeitgleich die Mobilität in Osteuropa zunahm und die Medien das Thema zum Dauerbrenner erhoben, wirkten zusätzlich verstärkend.
Für die Beteiligten war also auch die ungeahnte Aufmerksamkeit durch die Medien, die, da sich die Geschehnisse über fünf erstreckten, nahezu zur Liveberichterstattung übergehen konnten, ein Eskalationsgrund. Die, die sich ohne Stimme fühlten, sahen sich nun wenigstens in den Hauptnachrichtensendungen applaudieren. Gerade dadurch haben aber die zwei, drei Dutzend Brandsetzer und die zwei-, dreihundert offenen Sympathisanten von Hoyerswerda und anderswo das Stigma dieser Städte noch weiter verstärkt. Die Kameras sind fort, das Brandzeichen des Jahres 1991 bleibt nämlich ausgerechnet an den ostdeutschen Städten, die damals durch die Medien der Welt ihr vermeintliches neues Deutschsein und ihre Angst und Flucht durch die neue, sie überrollende Zeit demonstrierten, haften. So beispielsweise im Gedicht Mein Terrortorium von Volker Braun, 1991 entstanden:
Heute gehört uns Deutschland nicht mehr/Morgen
Kurzarbeit Null in Pumpe, Lauchhammer plattgemacht
Skinheads DIE STIMMUNG HAT VOLKFESTCHARAKTER:
Niggerschweine
Hoyerswerda, wo liegt das? Finsterste Welt
Lessing im Gulli mit eingetretener Stirne
Der Lehrer auf dem Marktplatz im reißenden Rudel der Schüler
ICH HABE IN VIERZIG JAHREN NICHTS GELEHRT
Ich vor meinen Lesern Helm im Gesicht
Den Plexiglasschild in Händen Tränengas
Der Postsozialismus
Mein Blogkollege Andi (Zeitungs)Leser und ich wollten dieses Klischee zwar nicht wahrhaben, als wir uns auf die Planstadt-Tour begaben. Aber irgendwie fuhr es doch mit, wie die Abbruchkanten von Nachterstedt, die bei der Fahrt durch eine Tagebauregion zwangsläufig zum Thema werden, wenn man zur Beziehung zwischen dem im Autoradio das Piano abgreifenden Andrew Hill und dem Einfluss, den Paul Hindemith vielleicht auf ihn besaß, nichts mehr zu sagen hat als: „is halt utah jazz“ und die B 97 gerade Lakoma passiert.
Wer heute nach Hoyerswerda fährt, ist entsprechend mehr als etwas irritiert ob der deutlichen Präsenz der NPD-Plakate im Stadtbild. „Heimreise statt Ausreise“, „Kauft deutsche Produkte“, „Inländerfreundlich“ – so liest man es von den Laternen und aufgeklebt an den Stadtmöbeln und mangels anderer sichtbarer politischer Äußerungen, abgesehen von einigen hilflosen und im Argument ähnlich platt gehaltenen Aufklebern der MLPD, im Stadtbild, werden die Plakate zum Aushänge-Schild der 1991 durch Steinwürfe befreiten Zone. Das präsente Differenzierungsschema, das auf jeweils zwei Stufen: Für oder Gegen, Schwarz oder Weiß, Deutsch oder Nicht-deutsch, Drinnen/Draußen aufsetzt, ist eine sehr unangenehme Fortsetzung dieser anachronistischen Methode, sich eine komplexe Welt zu vereinfachen, die sowohl die Nationalsozialisten wie die Parteilichkeit der DDR zur Perfektion entwickelt hatten. Erstere waren zu arrogant und plump um ihre Selbstwidersprüche überhaupt wirklich zu realisieren, die DDR hat sich immerhin das Privileg erarbeitet, an ihren Selbstwidersprüchen zu zerbrechen. Die allgemeine und nachhaltige Lehre daraus sollte allerdings sein, dass einfache Erklärungen nie zureichen und man deswegen in allen Zusammenhängen, in denen diese angeboten werden, sehr vorsichtig sein sollte. Sie brechen spätestens dann zusammen, wenn sie tatsächlich etwas beweisen sollen und zwar oft unter Reibungsverlusten, die als Preis einfach zu hoch sind. Solange aber die Konsumfacette der Gesellschaft funktioniert, muss man sich um eine politische Radikalisierung hin zur Tat weniger Sorgen machen. Der vormundschaftliche Staat hat interessanterweise gerade in diesen sozialistischen Modellstädten durch seine Versorgungsfunktion ein breites politisches Desinteresse hinterlassen: Sobald man nicht mehr um die Lebensmittel kämpfen muss, entfällt der Kampf als Lebensmittelpunkt. Und die Konsumindustrie mit der entsprechenden medialen Beschallung über die Vormundschaft recht souverän, wenn auch mit einer umgedrehten Ausrichtung: Musste man in der DDR partizipieren, um sein Auskommen zu haben, benötigt man nun sein Auskommen und zu partizipieren. Woher man es bekommt, ist jedem selbst überlassen. Das ist eine Freiheit, die man in Ostdeutschland nach 1989 tatsächlich ausgehändigt bekam.
Das Zentrum: Warenhaus
Wer die Menschen in Hoyerswerda und auch in Eisenhüttenstadt treffen möchte, muss nicht in die Parkanlagen gehen, auch nicht in die Kirchen oder zu der schönen Grünanlage mit den sich und die Stadt spiegelnden Sandsteinfiguren, sondern einfach nur in die Lausitz- oder City Center mit ihren gleichförmigen und gleichschaltenden Ladenstraßen bzw. in die Kleingärten als einem beliebten Focus für das Konsumverhalten. Die Träumer sind im Lottoladen oder in der Spielothek, so scheint es.
Das Kaufhaus in der Neustadt von Hoyerswerda aus dem Jahr 1968, einst Centrum-Warenhaus und jetzt verendende Karstadt-Filiale bleibt mit seinen Aluminiumtafeln architektonischer Blickfang im Zentrum, deprimiert aber beim Betreten umso mehr: eine auf eine Etage beschränkte Resterampe, die von Einkaufskultur so wenig weiß, wie die Ketten im Lausitzcenter und der Textildiscounter, der das Erdgeschoß des kleinen Kaufhauses am ausgestorbenen Markt in der Altstadt füllt. Innen scheint das Haus ohne Zukunft.
Die Kultur
Dem Kaufhaus gegenüber liegt die Lausitzhalle, deren Bau sieben lange Jahre von 1977-1984 umfasste und die als „Haus der Berg- und Energiearbeiter“ den hiesigen Berg- und Energiearbeitern des VE Gaskombinat Schwarze Pumpe als kulturelles Zentrum dienen sollte, also das, was zu Zeiten Brigitte Reimanns „diese neuen Restaurants mit ihren Standardräumen, Trauben von kugeligen Lampen und dem Geruch nach Wartesaal und Kunststoffen“ (Franziska Linkerhand, S. 141) und Namen wie „Glückauf“ und „Friedenstaube“ waren. Hier wurde in etwas umgesetzt, was das nie gebaute Kulturhaus Stalinstadts enthalten sollte: Eine Mischung aus Theater, Gastronomie, Jugendklub und ähnlichen Angeboten, die sich im Sommer 2009 so darstellten, dass das mal das Berliner Kriminaltheater mit „Die Mausefalle“ gastiert und sich das andere Mal das Poetenpack Potsdam mit „Verlorener Liebesmüh“ einbringt. Im Frühjahr kam das Theater Görlitz mit der Brigitte-Reimann-Oper „Linkerhand“ von Moritz Eggert zur Uraufführung. „Rimbaud in Eisenhüttenstadt“ hatte es dagegen nie nach Eisenhüttenstadt geschafft, was vielleicht für Stadt und Stück ganz gut war.
Immerhin: das HBE lebt hinter dem Spiegelglas. Interessant ist dabei vielleicht auch, dass man bei der Namensgebung keine Person (wie z.B. bei „Friedrich-Wolf-Theater“), sondern das angestrebte Publikum ins Zentrum rückte. Heute ist man wieder heimatverbunden bei der Region gelandet. Die seitlichen Aufgänge und Freitreppen, die einen Blick über den Lausitzer Platz bzw. die Magistrale versprechen, sind leider nur wenige Stufen begehbar und dann über ein Gitter abgeriegelt, was eine von ähnlichen Baulösungen in anderen Städten bekannte Nutzung als Aufenthaltsort z.B. für die Jugend der Stadt deutlich unterbindet. Die klebt zwar ihren Namen mit Aufklebern aus dem Graffiti-Zubehör-Handel auf die Trennwand, ist sonst aber während des ganzen Rundgangs kaum zu entdecken. Wie in Eisenhüttenstadt bestimmen auch in Hoyerswerda Menschen jenseits des Rentenalters das Stadtbild: Shrinking City, Wrinkling City, Disappeer Groups – die drei Stadtentwicklungsphänomene wirken übergreifend. Die Jugend von Gestern – nämlich die, die am Berg und für die Energie arbeitete, entdeckt man in dem schönen wandfüllenden Mosaik am der Seite zur Magistrale und wenn man das Paar, das an höchster Stelle noch über den Kühltürmen eng beieinander stehen sieht, fragt man sich schon, ob dies nicht Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann sind. Oder Franziska und – jawohl – Ben: „Weihnachten suchte ich dich zum erstenmal, Ben, in der alten und in der neuen Stadt, auf den Straßen und in Lokalen...“ (Franziska Linkerhand, S. 161) Je länger man sich die beiden Figuren betrachtet, desto wahrscheinlicher scheint dies: Er in offener, lose über der Schulter hängender brauner Jacke, ein querhängendes weißes Hemd, sie im lila Kleid, alles mit Kohlenstaub überzogen und als ob sie gerade losliefe, denn Blick nach vorn während er sie halb unschlüssig zu halten versucht, mit einer Hand.
Der unvollendete Raum
Hinter der Stadthalle und dem neuen Hotel wirkt das Neustadtzentrum – wie auch das Zentrum von Eisenhüttenstadt – sehr unfertig. Hat die Ostdeutschland mit gesichtslosen Einkaufszonen versorgende ECE Hamburg mit dem Lausitzcenter 1995 wohl eine Lücke am Aufmarschplatz neben der Magistrale geschlossen, die in Eisenhüttenstadt blieb, führte der Abriss zahlreicher Vielgeschosser zu neuen Lücken. Das gibt der breiten Doktor-Wilhelm-Külz-Straße, die zweite Magistrale der Neustadt, einen zugigen Zuschnitt: Der Stadtraum wirkt, als erwartete er noch etwas. Vermutlich ist das weiterer Rückbau, befindet sich die Einwohnerzahl analog zu der Eisenhüttenstadts im freien Fall. Von den um die 70.000 Einwohnern in den 1980ern bleiben 2008 noch knapp 40.000 über, verteilt auf zehn Wohnkomplexe, die Altstadt und einige Eingemeindungen. Einen Rückgang der Bevölkerung um 40 % ist auch in Eisenhüttenstadt bekannt. Der Rückbau in Hoyerswerda wirkte deshalb noch etwas spektakulärer, weil sich die Abrisskräne hier durch die dominanten 11-Geschosser arbeiteten und dies teilweise auch in der Nähe des Zentrums, während es in Eisenhüttenstadt im Innenstadtbereich (bisher) nur punktuell und sehr zurückhaltend zum Abriss kam.
Der Turm und der Friedhof
Als Kontrapunkt zur Entdichtung des Stadtzentrums erhebt sich der so genannte Lausitztower in der Stadtpromenade 11, ein elfgeschossiges Hochhaus, das mit relativ einfachen Kniffen zu einem wirksamen architektonischen Markenzeichen der Stadt umgebaut wurde (vgl. auch Stadtpromenade 11 gilt als gutes Beispie - Lausitzer Rundschau, 18.07.2007). Es ist ein Blickfang, der in gewisser Weise von der erschreckenden Banalität des Einkaufszentrums ablenkt, welches eine überdachte Verbindungsachse zwischen der Magistrale und der Grünachse des Ehrenhains darstellt.
Der Ehrenhain lässt sich weder von der Seite des Hochhauses noch von der des Einkaufszentrums betreten, bleibt deutlich abgegrenzt zum umgebenden Stadtraum. Ausgelegt ist er mit den großen weißen Steinplatten, die in den 1970ern auch im Eisenhüttenstädter Stadtpark Insel zum Einsatz kamen und zwischen denen sich ein kleines Rosenbeet ausbreitet. Die Passanten, die auf den Bänken mit Blickrichtung Lausitztower platznehmen, haben den Vorparkplatz zum Einkaufszentrum vor Augen, den Hain dagegen im Rücken und mit diesem die große Stele mit Feuerschale sowie Sandsteintafeln, die die Namen von Opfern des zweiten Weltkriegs bzw. einen großen Sowjetstern tragen sowie die Skulptur „Der Widerstehende“ des Bildhauers Jürgen von Woyski, der 45 Jahre in der Stadt lebte und dessen Arbeiten in größerer Zahl über die Stadt verteilt sind. Man ist in der Anlage trotz ihrer Offenheit tatsächlich einigermaßen dem darum stattfindenden Einkaufsleben enthoben und insofern zeigt sich die Abgrenzung zur Umgebung nicht unbedingt als Nachteil.
Ob die Bewohner der Stadt die Anlage wahrnehmen, oder sie mit dem berühmten „Hoyerswerdaer Tunnelblick“, wie ihn die Hoyerswerda geborene Journalistin Kathleen Hofmann einmal beschrieb, beim Vorbeigehen ausblenden, lässt sich schwer beantworten. Auch der Vergleich mit dem Platz des Gedenkens im Eisenhüttenstädter WK I bietet sich nicht an, ist dieser doch nach allen Seiten offen und daher als städtischer Transitraum nutzbar. Hinter der Gedenkstätte zieht sich die kleine Allee des ehemaligen städtischen Friedhofs, der in den 1960ern geschlossen wurde. In dieser befinden sich ein Kriegerdenkmal aus dem Ersten Weltkrieg und eine Reihe von Bildhauerarbeiten, die wohl hauptsächlich während des 1983 abgehaltenen 5. Internationalen Bildhauersymposiums entstanden, das die in der DDR sehr verbreiteten und oft zitierten 11. Feuerbachthese von Karl Marx als Motto trug: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Nun stehen sie hier in einem Umfeld, was sich seit fast zwei Jahrzehnten versucht, in der der städtebaulichen Ausprägung einer Interpretation dieses Veränderungswillens zurück zu der von Marx in der zehnten Feuerbachthese verworfenen Bürgerlichkeit zu entwickeln. Ob es gelingt? Nur einen Katzensprung – eine graue Katze lief uns tatsächlich über den Weg, aber in einem anderen Wohnkomplex – entfernt befindet sich das Martin-Luther-King-Haus, in dem zuvor die Friedhofskapelle untergebracht war. Eine Kirche dagegen sollte es auch in der zweiten sozialistischen Stadt nicht geben, wohl vorbeugend im Einklang mit der vierten Feuerbachthese, in der man von der „religiösen Selbstentfremdung“ liest. Stattdessen stand an selber Stelle die „drei rostrote[n] Baracken“ (Brigitte Reimann, Franziska Linkerhand, S. 135) der „Aufbauleitung der Neustadt“. Durch den Himmel zuckte während unseres Besuches aber nicht „deltaförmig ein Düsenjäger […] in eine heitere weiße Wolke überm Horizont“, wohl aber etwas Grollen, nur aber aus einer ernsten, dunklen Wolke, die die Neustadt kräftig beschüttete. Im nahegelegenen Wohnblock kann man sich zwischen den leeren Schaufenstern der ehemaligen Dienstleistungsnischen im Erdgeschoß unterstellen: der Dönerladen ist, wie ein Schild informiert, umgezogen.
Eine Orangerie
Einmal im Niesel ums Ecke und zur hoffentlich bald durchbrechenden Sonne geschaut, erkennt man, dass es wechselhaft bleibt und erblickt zusätzlich einen markanten orangenen Würfel, der zwischen der Bus-Wendeschleife und der Bautzener Brücke unweit der Schwarzen Elster liegt, das etwas versumpft auch topographisch die Neustadt von der Altstadt trennt.
Der Würfel an der Albert-Einstein-Straße, neben dem drei Bauteile aufgereiht im Gras stehen, die offensichtlich vom Stadtumbau als Erinnerungsstücke aufbewahrt werden, soll zu eben diesem Stadtumbauprogramm Einblick und Ausblick geben, sowie Ideen sammeln – eine naheliegende Idee, die man sich auch in Eisenhüttenstadt für den VII. Wohnkomplex oder den Zentralen Platz gewünscht hätte. Die kleine Dokumentationsstelle öffnet ab 14 Uhr und war bei unserem Besuch mit einer sehr netten aber bedauerlicherweise mit der Materie nicht sonderlich intensiv geschulten Aufsicht besetzt. Nicht einmal die Trumpfkarte „Felix Ringel“ (vgl. auch Im Dschungelforschungscamp: Anthropologie in Hoyerswerda und anderswo) zündete, denn der Anthropologe aus Cambridge mit dem Schwerpunkt Hoyerswerda war ihr schlicht unbekannt und insofern blieb die Annäherung an die Transformation der einmal zweitgrößten Stadt im Bezirk Cottbus auf autodidaktischem Niveau. Man erfuhr nur, dass die Einwohner nicht sonderlich religiös sind, wenig leidenschaftlich und wenn man sie fragt, was ihnen am besten gefällt, auf das viele Grün verweisen. Es wird noch einiges dazukommen.
Die Dokumentation ist sehr hilfreich, hilft zu verstehen, was sich in der Neustadt in den letzten Jahren ändert und erklärt auch die vielen freien Grün- und Wucherflächen in den Wohnkomplexen. Auf der Galerie im Würfel findet sich obendrein ein rührendes und sehr holprig gereimtes Gedicht eines 14 Jährigen auf die Stadt:
… In einer Stadt, in der einst war reges Treiben/muss es auch heute noch möglich sein zu bleiben.
Sollte es, denn auch wenn der flüchtige Eindruck nicht gerade mitreißt, so kann man sich dennoch vorstellen, dass man mit dem richtigen sozialen Umfeld und einer sinnvollen Aufgabe in Hoyerswerda glücklich werden kann. Aber auch das andere ist vorstellbar.
Die Altstadt
Beim Übergang zur Altstadt, der an dieser Stelle geradewegs zum Wohl mit Plastiken wie Tieren gespickten Zoo führt, den wir mangels Zeit aber links liegen lassen mussten, erkennt man sofort, dass Jürgen von Woyski in Hoyerswerda ganze Arbeit geleistet hat, denn auch hier finden sich wunderbare Arbeiten in Sandstein, Keramik und Metall. Vor dem Schloss stieß zum Beispiel ein aufrechter bronzender Blechbläser in die Fanfare, während eine Hochzeitsgesellschaft auf das Brautpaar aus dem Trauzimmer wartete. Die Tatsache, dass man eine Hochzeitsgesellschaft trifft, beantwortet nebenbei die berühmte Reimann-Frage: Kann man in Hoyerswerda küssen?
Man kann offensichtlich, wenigstens in der Altstadt. Als das Brautpaar später durch die Pforte schritt, hatte man obendrein den Eindruck, dass sich die beiden glücklichen Menschen auch schon bei anderen Gelegenheiten küssten. Vielleicht stammen sie aber auch gar nicht aus Hoyerswerda, sondern aus Riegel oder Tätzschwitz. Das wissen wir genauso wenig wie, ob die aktuelle Ausstellung im Schlossmuseum zur Schulgeschichte in Hoyerswerda und Umgebung auch die Tätzschwitzer Schulstube mit in das Programm einbezogen hat. Denn uns trieb es weiter vorbei am Gründungshaus der Domowina (Bund der Lausitzer Sorben), in dem niemand Geringeres als Konrad Zuse sein Abitur erwarb und das leider sehr verlassen da lag, zum Marktplatz.
Auf diesem steht ein Brunnen, dessen Sockel dem vor dem Eisenhüttenstädter Rathaus um einen Hahn gleicht. Während aber in Eisenhüttenstadt eine Mutter ihr Kind Richtung Bürgerbüro führt, schweigen sich in Hoyerswerda ein Mann mit Hut und eine Frau ohne Hut an. Vielleicht ging es, so ein Gedanke, damals doch nicht so gut mit dem Küssen in Hoywoy. Nicht weit davon ist die Tourismusinformation, die mit einer ganz guten Sortierung an Postkarten und Broschüren aufwartet. Als für den weiteren Spaziergang sehr hilfreich erwies sich die Broschüre „Brigitte Reimann – Spaziergang durch Hoyerswerda“ des Hoyerswerdaer Kunstvereins, die einige Stationen aus Leben und Werk der wohl prominentesten Bürgerin der Stadt auf der Karte eingezeichnet und annotiert enthält. Streng wissenschaftlich-technisch gibt sich das für Literaturliebhaber gefühlt den Brigitte-Reimann-Stadt führende Hoyerswerda den Beinnamen Konrad-Zuse-Stadt, obwohl dieser dort tatsächlich nicht viel mehr als die Hochschulreife erwarb. Andererseits geht das Stadtmarketing vielleicht davon aus, das Konrad Zuse womöglich jenseits der Freundeskreise für DDR-Literatur ein bekannterer Akteur ist. Viele Touristen zieht er trotzdem nicht an, wie uns an anderer Stelle bestätigt wurde und wie es auch eine laut Statistik nur 21 % betragende Auslastung der 477 Gästebetten der Stadt andeutet. Daher verwundert es auch nicht, dass die Zahl der Restaurants in Hoyerswerda überschaubar ist und uns letztlich die Wahl zwischen afrikanischer Cuisine im Zoo oder gemischter Küche 30 Meter weiter blieb. Wir blieben 30 Meter weiter.
Keine Experimente?: Die Wohnkomplexe
Die Wohnkomplexe selbst zu durchwandern gelang uns nur in Andeutung. Im Gesamteindruck erinnern sie an das, was in Eisenhüttenstadt ab dem Wohnkomplex IV entstand, wenn auch mit z.B. deutlich anders konzipierten Grünräumen. Kinder, die hier aufwachsen, lernen vermutlich frühzeitig zu zählen, denn in der Tat sehen sich manche Wohnhöfe wenigstens auf den ersten Blick sehr ähnlich und man fragt sich beim Initialbesuch schon, ob man sich noch in der Johannes-R.-Becher oder bereits in der Johann-Gottfried-Herder-Straße flaniert. Auch die Überarbeitung der Fassaden seit 1990 beließ diese Situation unangetastet. Das Haus, in dem Brigitte Reimann wohnte und von ihrem Küchenfenster sie das Wachsen ihres WK I beobachten konnte und feststellte „Es ist schon eine tolle Stadt“, aber auch „Eigentlich betrachte H. nur als eine Art Durchgangsstation“, ist denkbar unauffällig. Eine kleine Gedenkplatte neben dem Eingang verweist auf ihren Aufenthalt von 1960-1968. Eine kleine Stichstraße nebenan trägt den Namen der Autoren. Ansonsten ist das Wohngebiet spärlich frequentiert und sehr ruhig. Nur manchmal lärmen zwei Touristen mit Andrew Hill im Autoradio herum, meistens aber eher zu Fuß und eifrig fotografierend. Schaut man genauer, erkennt man durchaus die maßgeblichen Unterschiede zwischen den Baustufen und je weiter man nach Osten treibt, je höher die Nummern hinter der Bezeichnung Wohnkomplex werden, desto mehr sieht man auch hier – vergleichbar mit den Stadterweiterungsstufen in Eisenhüttenstadt – wie die Liebe zum Detail der Taktstraßen-Rationalität untergeordnet wurde:
„Ich hoffe, Sie haben keine überspannten Vorstellungen von den Aufgaben, die Sie hier erwarten. Wenn Sie der Auffassung sind, daß Neustadt ein Experimentierfeld ist, dann revidieren Sie diese Auffassung. Wir haben keine Zeit für Spielereien. Wir haben nur eine Aufgabe: Wohnungen für unsere Werktätigen zu bauen, so viele, so schnell, so billig wie möglich. Halten Sie sich das immer vor Augen.“ (Franziska Linkerhand, S. 140)
Da war der Name Programm und gerade an den Nahversorgungs- und gesellschaftlichen Einrichtungen lässt sich dies deutlich ablesen. Letztlich waren die Planstädte der DDR natürlich nichts anderes als ein großes Experimentierfeld und die bauingenieurtechnischen Innovationen, die in Hoyerswerda erprobt und republikweit eingesetzt wurden, sind damit gar nicht mal gemeint. Denn es ging darum, wie man das Leben von zehntausenden Entwurzelten an einer Stelle bündelt und so organisiert, dass sie im Idealfall glücklich werden bzw. sich wenigstens nicht in einer für sie unerträglichen Tristesse aus dem Wohnhochhaus werfen. Ist es gelungen? Wohl weder noch, so der Eindruck. Man lebt auch hier vermutlich vorwiegend im Lebensmittelmaß.
Das Planetarium
Ein besonders sehenswertes Kleinod aus einem polytechnisierten Bildungszeitalter, das in seiner Wertigkeit nach dem Schema Weltall-Erde-Mensch gestaffelt war, findet sich als bauliches Beispiel für die sozialistische Fortschritts- und Aufklärungseuphorie der 1960er Jahre im Wohnkomplex VI: eine Schule mit Sternwarte, die folgerichtig „Mittelschule am Planetarium“ heißt. Der kleine Rundbau wurde ab 1967 als so genannte „Volkswirtschaftliche Masseninitiative“ (VMI) also in freiwilliger Arbeit errichtet. Unglücklicherweise steht die Mittelschule heute wohl auch auf der Abrissliste, denn natürlich fehlen auch in Hoyerswerda die Schüler und so soll die Schule am Planetarium laut Plan in absehbarer Zeit mit einer weiteren Schule in die 1959 gebaute und denkmalgeschützte ehemalige Ernst-Schneller-Oberschule im I. Wohnkomplex ziehen, wobei das Gebäude, welches wir zufällig auch passierten, bislang relativ unsaniert erscheint und die Wände hauptsächlich als Sprühwandzeitung der lokalen politischen Jugendkulturen genutzt werden. Die angrenzend liegende zentrale Freifläche mit der eingewachsenen Kegelbahn erinnert an die ebenfalls weitgehend sich selbst überlassene Eisenhüttenstädter Insel bzw. das Nahversorgungszentrum am Platz der Jugend. In der Klubgastätte „Melodie“ zwischen Sputnik- und Armstrong-Straße spielt jedenfalls keine Musik mehr, in der „Einkaufsstätte des täglichen Bedarfs“ befindet sich immerhin noch ein Aquarienhandel. Richtig Aufbruchsgeist in neue Sphären strahlt auch dieses Viertel nicht mehr aus. Es hat schon in der hiesigen offensichtliche Probleme, das Gleichgewicht zu halten.
Diesen Kummer teilt es mit dem 10. Wohnkomplex „Seidewinkel“, in dem jüngst passenderweise in der Albrecht-Dürer-Straße ein sechsgeschossiger Plattenbau der Baureihe WBS 70 zum Malgrund wurde. Im Resultat steht unter anderem ein schönes Porträt Konrad Zuses, das sich über den gesamten Aufgang Nr. 3, hofseitig, erstreckt. In nicht allzu ferner Zukunft wird auch er mit dem ganzen Wohnkomplex und den Wohnkomplexen 8 und 9 verschwunden sein. So ähneln sich die Stadtschicksale, obschon Eisenhüttenstadt im Vergleich und was den Abriss angeht sogar noch recht glimpflich davon kommt.
Die Steine und die Menschen
Eine letzte Gemeinsamkeit der beiden Städte, die uns bei dem Rundgang ins Auge fiel, sind die wandernden Skulpturen. So sind die sehr schönen Arbeiten des ersten Bildhauer-Symposiums aus dem Jahr 1975, die unter dem Motto „Friede, Glück und Freundschaft“ u.a. von Peter Kern, Alexander Ilecko, Jurij Orechow, Zygfryd Korpalski und natürlich Jürgen von Woyski zusammengemeißelt wurden, aus dem aufgegebenen Nahversorgungszentrum des Wohnkomplex IX ins Zentrum der Neustadt umgezogen und werden dort in einer hervorragenden neuen Aufstellung präsentiert. Die wenigen Hoyerswerdaer, dieSamstagmittag die Einstein-Straße entlanglaufen, um zum Floristen, zur Bank oder zur Spielothek oder nach Hause zu gehen, schauen nicht herüber. Dabei ist die Anlage wirklich etwas, was Zuversicht ausstrahlen kann. Aber vielleicht waren sie auch schon alle da. Und immerhin kennen sie die Arbeiten vielleicht seit 34 Jahren. Dennoch: Die Rekontextualisierung von Vertrautem, was für uns in gewisser Weise diese kleine Tour darstellte, hilft, die eigenen Ansichten zu hinterfragen. Der Anlage nahe der Magistrale geht es um Reflexion. Reisen und Rückkehren hat – das wusste nicht nur der eingangs erwähnte Albert Klein – erfüllt einen ähnlichen Zweck. Vermutlich müssen wir ohnehin bald noch einmal zurück.
Denn gern hätten wir gewusst, ob sich die frühen Hoyerswerdaer ähnlich intensiv mit ihrer Stadt verbunden fühlen, wie es die Stalinstädter Aufbaugeneration tut. Allerdings kam uns dieser Gedanke erst auf der Heimfahrt und bevor wir uns wie üblich in Zungenbrechern über den Cottbusser
Kopfnussknacker, der die Cottbus Kopfnuss knackt, verloren.
Vielleicht waren die wenigen Jahre Abstand zwischen der Stadt an der Oder und der Stadt an der Elster ausreichend genug, um den Aufbau Hoyerswerdas zu einem routinierten Aufbaueinsatz werden zu lassen, bei dem Bautrupps nach Plan Zeilenbau an Zeilenbau aus der Fließstrecke des Betonwerks Groß Zeissig reihten, um später wieder abzuziehen, während die Bauarbeiter der Stalinstadt nicht selten in den Häusern selbst wohnen blieben und ins EKO wechselten. Hierüber können wir nur mutmaßen. Ein identifikationsspezifischer Vergleich wäre aber in jedem Fall ein wunderbares Thema für eine stadtsoziologische Untersuchung.
Wie man in Hoyerswerda den Bogen bekommt, um die Neustadt so umzugestalten, dass man in ihr nicht nur Küssen kann, sondern auch küssen will, ist eine Kopfnuss, an der die dortige Stadtentwicklung schon seit Franziska Linkerhand herum handwerkt und für die es womöglich gar keine Lösung gibt. Stadtentwicklungen sind, wie auch Gärten, dann, wenn sie als Planungsbogen das Atelier verlassen haben und beginnen Wirklichkeit zu werden, mehr als die Umsetzung von Schönheit und Ratio. Es sind Prozesse mit einem Eigensinn, der schwer kontrollierbar ist. Das gilt ganz offensichtlich genauso für den Auf- wie für den Rückbau von Planstädten.
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Anmerkung:
Die zitierten Textstellen aus Brigitte Reimanns "Franziska Linkerhand" folgen der Erstausgabe: Berlin:Verlag Neues Leben, 1974.